Willfährige, akademische Handlanger
Zu der wohl unrühmlichsten Besonderheit in der Geschichte der traditionsreichen Tübinger Universität gehört, dass es 1933 zum Zeitpunkt der ‚Machtübernahme‘ durch das NS-Regime kaum noch jüdische Studenten und Dozenten gab.
Vorauseilende Schikanen
Gründe dafür waren zum einen offene antisemitische Anfeindungen und zum anderen die Verhinderung von Berufungen von jüdischen Wissenschaftlern auf Lehrstühle durch die universitären Gremien.
1933 meldete der Universitätskanzler August Hegler stolz: „Judenfrage gelöst“. Daher wurden nach der NS-Machtübernahme ‚nur‘ noch acht Professoren, Dozenten und Assistenten wegen ‚nichtarischer‘ Herkunft entlassen. So wenig wie an keiner anderen deutschen Universität.
Die Universität in der Weimarer Republik
Was waren die gesellschaftlichen Bedingungen dafür, dass der Nationalsozialismus die renommierte Tübinger Universität so leicht erobern konnte?
Den ideologisch-politischen Boden hatte die Akademikerzunft selbst bereitet.
Professoren waren nach der Reichsgründung 1871 überwiegend monarchisch-national, nach dem Ersten Weltkrieg mehrheitlich konservativ, republikfeindlich und revanchistisch (Dolchstoßlegende) eingestellt. Antisemitismus war in Akademikerkreisen der Weimarer Republik durchaus gesellschaftsfähig.
Die Folgen waren: Opportunismus und Selbstgleichschaltung.
„Die Heimat hat euch von hinten erdolcht“ – Auftrag zur Revanche
Mit obigen Worten empfing 1918 der Tübinger Historiker Johannes Haller in seiner Funktion als Rektor die aus dem Krieg zurückgekehrten Studenten.
Völkisch-nationales Denken war fester Bestandteil fast sämtlicher studentischer Verbindungen. Der ‚Hochschulring Deutscher Art‘, eine verbindungsübergreifende Organisation republikfeindlicher und antisemitisch gesinnter Studenten, griff 1925 in Tübingen einen Vortrag des Heidelberger Mathematikers und Pazifisten Emil Julius Gumbel mit Gewalt an. Es kam zu Krawallen und Schlägereien zwischen rechten Studenten und demokratischen Verfechtern der Republik (Reichsbanner).
In Tübingen erreichte der ‚Nationalsozialistische Deutsche Studentenbund‘ (Gründung 1926) bei den AStA-Wahlen bereits 1932 die Mehrheit.
Tübinger ‚antisemitische‘ Wissenschaft
Als führende Bildungs- und Forschungseinrichtung kam der Universität Tübingen besondere Bedeutung zu, da sie als einzige Universität des Landes Württemberg funktionale Eliten (Lehrer, Mediziner, Juristen) ausbildete.
Vor und während der NS-Zeit war der politische Einfluss der Universität maßgeblich für die Umsetzung der NS-Ideologie.
Als Beauftragter des Kultministers trug Gustav Bebermeyer (Professor am Institut für deutsche Volkskunde) die Verantwortung für die ‚Gleichschaltung‘ der Universität. Rektor Hermann Hoffmann formulierte 1937 das Ziel, alle Wissenschaftsgebiete um den ‚Rassengedanken‘ zu gruppieren.
Tübinger „Wissenschaftlicher Antisemitismus“

Robert Ritter, ehemals Oberarzt an der Tübinger Universitätsnervenklinik, war 1936 für die Erfassung von tausenden Sinti und Roma in Deutschen Reich veranwortlich. (Foto: Bundesarchiv, R 165 Bild-244-71 / CC-BY-SA 3.0)
Vertreter des sogenannten Tübinger „Wissenschaftlichen Antisemitismus“ – einer Verbindung von traditionellem, christlichem Antijudaismus und NS-Rassenideologie – wurden zu Vordenkern der nationalsozialistischen Vernichtungspolitik. Neben dem Antisemiten und ‚Judenforscher‘ Karl Georg Kuhn tat sich besonders der evangelische Theologe Gerhard Kittel hervor. Bereits 1933 erwog er hypothetisch, dass, wenn die Rassentrennung nicht gelänge, man wohl alle Juden umbringen müsse.
Karl Adam, katholischer Professor für Dogmatik, erklärte die Ziele des Katholizismus und des nationalsozialistischen Antisemitismus als weitgehend übereinstimmend.
Fächer und Fakultäten

In dieser Schrift forderte der Direktor der Universitäts-Nervenklinik, Robert Gaupp, bereits 1925 eugenische Sterilisationen. (Foto: Jens Kolata)
Einzelne Fächer und Institute der Tübinger Universität hatten besonderen Anteil an der Ausbildung der nationalsozialistischen ‚Weltanschauung‘.
Dazu gehörten das Institut für Deutsche Volkskunde, das Rassekundliche Institut sowie die Fächer Völkerkunde, Geographie, Ur-und Frühgeschichte.
Theodor Haering und Max Wundt betrieben die ‚rassisch-ideologische‘ Ausrichtung der Philosophie.
Medizin wurde zur maßgeblichen Fakultät in der NS-Zeit. Ihr gehörten über 50 Prozent der Studierenden und des Lehrkörpers an. Bei der Durchsetzung der NS-Ideologie an der Universität kam ihr eine Führungsrolle zu. In Tübingen gab es bereits seit 1924 eine Ortsgruppe der „Deutschen Gesellschaft für Rassenhygiene“, die Maßnahmen wie Sterilisierungen von ‚Erbkranken‘ propagierte.
Tübinger Mediziner, namentlich die Klinikdirektoren Robert Eugen Gaupp, Hermann F. Hoffmann und August Mayer, wirkten mit an der „Erhaltung und Pflege der Erbgesundheit“.
Nach 1945
Geehrte braune Dozenten …
Viele wissenschaftliche Protagonisten des Nationalsozialismus gelangten nach 1945 wieder in Amt und Würden. Erst spät, als die Mehrzahl der für das NS-Regime tätigen Professoren emeritiert oder verstorben war, begannen die Fakultäten mit der Aufarbeitung.
… und späte Aufarbeitung
Nachdem Studierende bereits in den 1960er Jahren vereinzelt die NS-Geschichte der Universität Tübingen thematisierten, erschien 1977 die erste historische Studie zum Thema.
In Tübingen arbeitet man sich bis heute an ‚prominenten‘ Namen ab
Die Robert-Gaupp-Staffel wurde 1992 in Jakob-van-Hoddis-Staffel umbenannt.
Erst im Jahr 2011 beschloss der Tübinger Gemeinderat die Umbenennung der Karl-Adam-Straße in die Johannes-Reuchlin-Straße.