Millionen von Menschen wurden während des Zweiten Weltkrieges gezwungen, für das NS-Regime Zwangsarbeit zu leisten: in den besetzten und annektierten Staaten Europas sowie in Deutschland. Millionen – Frauen, Männer, Kinder, alte Menschen – wurden verschleppt, deportiert, in Lagern kaserniert, und Millionen haben nicht überlebt.

Auch in Tübingen gehörten Zwangsarbeiterinnen und Zwangsarbeiter zum ganz ‚normalen‘ Alltagsbild. In der Landwirtschaft, in der Industrie, im Universitätsklinikum und auch in Privathaushalten wurden diese Menschen als Arbeitskräfte eingesetzt.

Im Güterbahnhof in Tübingen mussten seit 1942 sowjetische Kriegsgefangene Zwangsarbeit leisten. Die meisten Güterbahnhöfe sind heute abgerissen. Der Tübinger Güterbahnhof ist noch erhalten, ebenso der während der NS-Zeit eingebaute Beobachtungsstand.

Der Güterbahnhof ist mehr als eine Fußnote in der Stadtgeschichte, mehr als ein Zeugnis für die Verbrechen des NS-Regimes in Tübingen; er ist auch ein realer Erinnerungsort für europäische Geschichte, für kollektive und individuelle Erfahrungen, die unterschiedlicher kaum sein könnten.

Die Ausstellung – Zwangsarbeit in Tübingen und Südwürttemberg

Im Raum Südwürttemberg gibt es bis heute keine Präsentation zum System der NS-Zwangsarbeit, einem so groß angelegten Staats- und Gesellschaftsverbrechen, dass es das Verhältnis vieler europäischer Nachbarn zu Deutschland bis heute beeinflusst.
Daher macht es sich der Verein Lern- und Dokumentationszentrum zum Nationalsozialismus (LDNS) zur Aufgabe, durch Forschungsprojekte, Dokumentation und Ausstellung diese Geschichts- und Erinnerungsarbeit zu leisten.

Im geplanten Lern- und Dokumentationszentrum sollen in einem Teil der ständigen Ausstellung folgende Themenbereiche zur NS-Zwangsarbeit didaktisch präsentiert werden:

  • Zwangsarbeit in Tübingen und Südwürttemberg
  • Zwangsarbeit im Güterbahnhof
  • Leben und Arbeit
  • Versorgung und Behandlung
  • Kriegsgefangene und Zwangsarbeiter auf dem Gräberfeld X des Stadtfriedhofs
  • Nach der Befreiung – Vergessene Opfer

Die Themen der Ausstellung im LDNS

Zwangsarbeit in Tübingen und Südwürttemberg

Polnische Zwangsarbeiterin an der Tübinger Universitätsklinik (?) (Foto: Stadtarchiv Tübingen ?)

Zwangsarbeit wird zumeist mit großen Industriebetrieben in Verbindung gebracht. Tatsächlich aber wurden Zwangsarbeiterinnen und Zwangsarbeiter auch in Tübingen und der Region eingesetzt.
Profiteure waren nicht nur industrielle und landwirtschaftliche Betriebe, sondern auch soziale und medizinische Einrichtungen (Universitätsklinik), ja sogar Privatleute.

Der Begriff ‚Zwangsarbeiter‘ ist kein in der NS-Zeit verwendeter Begriff. In der Regel wurden Euphemismen wie ‚Fremdarbeiter‘ oder ‚Ostarbeiter’ verwendet. Der spätere Terminus ‚Zwangsarbeiter‘ geht von der Rekrutierung und von der rechtlichen Stellung der Menschen aus: Zwangsarbeiter hatten keine Rechte.

Zwangsarbeit im Güterbahnhof Tübingen

Schon kurz nach dem Machtwechsel wurde das nationalsozialistische Deutschland durch Maßnahmen im privaten und öffentlichen Bereich auf den Krieg vorbereitet. In den Güterbahnhöfen baute man, wie in Tübingen, Brandschutzmauern mit Beobachtungsständen ein.
Im Tübinger Güterbahnhof wurden dreißig sowjetische Kriegsgefangene eingesetzt. Bis dahin war es Aufgabe der Unternehmen gewesen, Arbeiter zum Be- und Entladen zu schicken. Nun sollte der Warenumsatz beschleunigt werden und daher ein ständiges Arbeitskommando bestehen, das auch in der Nacht zur Verfügung stand.
Die Wachposten hatten eine erhöhte Position zu beziehen. Es ist sehr wahrscheinlich, dass sie dazu den Beobachtungsstand nutzten.

Leben und Arbeit

Die in Tübingen eingesetzten Zwangsarbeiterinnen und Zwangsarbeiter waren zum Großteil in Lagern untergebracht, die meist kommunal waren. Auch in kleineren Dörfern wurden sie von der Bevölkerung getrennt. Man holte sie morgens im Lager ab und transportierte sie zu den Einsatzorten.
Die Kriegsgefangenen unterstanden der Wehrmacht und kamen aus den Stammlagern („Stalag“) Ludwigsburg und Villingen. Sie waren in der Stadt in eigenen Lagern (z.B. „Sidler-Lager“) untergebracht. Die Wachmannschaften, die ebenfalls von der Wehrmacht kamen, wurden vom Stammlager Villingen gestellt.

Versorgung und Behandlung

In der Landwirtschaft wurden die Zwangsarbeiterinnen und Zwangsarbeiter in der Regel besser versorgt als in der Industrie, aber auch dort waren sie rechtlos. Sie durften sich an Feiertagen nicht in der Stadt aufhalten. Meist trafen sie sich außerhalb der Stadt, z. B. auf dem Hofgut Eckhof südwestlich von Tübingen. Es existieren nur wenige zeitgenössische Fotografien von Arbeitsprozessen, jedoch zahlreiche spätere Berichte über die Art der Zwangsrekrutierung und das Leben in der Fremde.

Die Behandlung der Zwangsarbeiterinnen und Zwangsarbeitern hing vom jeweiligen Einsatzort, vom Engagement des Betriebs, vom Herkunftsland und insbesondere vom ‚Status‘ (‚rassische‘ Kriterien) der Menschen ab. Die Verpflegung der sogenannten ‚Ostarbeiter‘ war oft unzureichend. Auch standen Kriegsgefangene aus Osteuropa auf einer niedrigeren Hierarchiestufe als Gefangene aus Westeuropa. Manche Zwangsarbeitergruppen erhielten einen Lohn; die sowjetischen Kriegsgefangenen im „Sidler-Lager“ bekamen jedoch nur das sogenannte „Lagergeld“. Ihnen war jeder Kontakt zur Bevölkerung verboten.

Kriegsgefangene und Zwangsarbeiter auf dem

Gräberfeld X

Gräberfeld X (Foto: Marek Wojciechowski)

Nicht nur die Kriegsgefangenen, auch die Zwangsarbeiterinnen und Zwangsarbeiter wurden mit Körperstrafen zur Arbeit gezwungen, die Arbeitgeber waren sogar dazu angehalten. Zur deutschen Bevölkerung, besonders zu Frauen, bestand ein absolutes Kontaktverbot. Wer dagegen verstieß, konnte mit dem Tode bestraft werden. Vielfach wurden ihre Leichen vom Anatomischen Institut der Universität Tübingen für Lehrveranstaltungen verwendet. Auf dem Gräberfeld X des Tübinger Stadtfriedhofs sind die Überreste vieler ermordeter Zwangsarbeiter und Kriegsgefangener bestattet.

Nach der Befreiung – Vergessene Opfer

Nicht alle Zwangsarbeiterinnen und Zwangsarbeiter sind nach 1945 sofort in ihre Heimat zurückgebracht worden, sondern blieben als sogenannte ‚Displaced Persons‘ (DPs) in den Lagern. In dieser Zeit kam es teilweise zu Konflikten mit der deutschen Bevölkerung und auch zu Eigentumsdelikten. Solche Vorkommnisse hatten Einfluss auf die (Nicht-)Wahrnehmung des begangenen Unrechts.

Eugenia Szalaty beim Besuch ehemaliger polnischer Zwangsarbeiter in Tübingen 1991 (Foto: Stadtarchiv Tübingen)

Manche der ehemaligen Zwangsarbeiterinnen und Zwangsarbeiter sind freiwillig in Deutschland geblieben. Die große Mehrheit jedoch hat Deutschland verlassen. Eine Entschädigung für die erzwungene Ausbeutung hat es nicht gegeben.
Erst sehr spät erfolgte nach jahrzehntelanger Tabuisierung, Verharmlosung und Verdrängung eine Auseinandersetzung mit dem Verbrechen, sodass es – für viele zu spät ? seit den 1990er Jahren zu Entschädigungen – Gesten einer Wiedergutmachungspolitik – für die ehemaligen Zwangsarbeiterinnen und Zwangsarbeiter kam.