Die Stadt Tübingen im Nationalsozialismus

Die bürgerlich-protestantisch geprägte Kleinstadt Tübingen war im südwestdeutschen Raum ein wichtiges Zentrum des nationalsozialistischen Regimes.

Denn Tübingen war nicht nur als Universitätsstadt von Bedeutung, sondern insbesondere auch als Militärstandort und Sitz von regionalen Behörden wie Oberamt, Landgericht und Reichsbehörden.

Völkischer Nationalismus und Rassismus vor 1933

Nationalistische, völkische und antisemitische Tendenzen gab es in Tübingen schon vor 1933. Republikfeindliche Verbände und Parteien, allen voran der Deutschvölkische Schutz- und Trutzbund, der Hochschulring Deutscher Art und die deutschnationale Württembergische Bürgerpartei, hatten in den Jahren nach dem Ersten Weltkrieg großen Zulauf. Sie prägten mit ihrer radikalen antisemitischen Propaganda (Versammlungen, Flugblätter, Klebezettel) das öffentliche Leben.
Dies schlug sich in den Wahlergebnissen nieder. Bereits im Sommer 1932 hatten 40 Prozent der Tübinger Einwohner die Partei Adolf Hitlers gewählt. Bei den Reichstagswahlen im März 1933 erlangte sie fast 50 Prozent. Damit hatte die NSDAP in Tübingen unter allen Städten Württembergs den höchsten Wähleranteil.

Antisemitismus in Tübingen seit den Zwanzigerjahren

In den 1920er Jahren waren antisemitische Vorfälle und Schikanen keine Seltenheit.
Albert Weil, der jüdische Verleger der „Tübinger Chronik“, und seine Familie kämpften andauernd gegen Anfeindungen.
Schüler des Uhlandgymnasiums beleidigten den Politiker und Rechtsanwalt Simon Hayum und bedrohten die Söhne des jüdischen Vorsängers Josef Wochenmark.
Unbekannte Täter schändeten 1928 die Synagoge in der Gartenstraße.
Seit 1930 griffen Nationalsozialisten wiederholt das Herrenbekleidungsgeschäft Lion in der Neckargasse an.
Im Januar 1923 bedrohten Verbindungsstudenten im Gasthof Ochsen die beiden jüdischen Holzhändler Marx. Auf der Straße wurde Ludwig Marx von 50 Studenten schwer misshandelt. Die Haupträdelsführer wurden vom Amtsgericht Tübingen und dem Disziplinarausschuss der Universität zu milden Strafen verurteilt.

Eifrige Mitstreiter: ‚Machtübernahme‘, Gleichschaltung, Volksgemeinschaft

Nationalsozialisten hissen am 9.3.1933 auf dem Tübinger Rathaus die Hakenkreuzfahne (Foto: Stadtarchiv Tübingen,  Hugo Kocher)

Die Machtübernahme der Nationalsozialisten in Tübingen verlief reibungslos. Ebenso die darauffolgende Gleichschaltung, die – wie auch an der Universität – oftmals eine freiwillige Selbstgleichschaltung war. Verwaltung und Gemeinderat, Presse, Vereine, Schulen sowie Kultur- und Sporteinrichtungen vollzogen teils in vorauseilendem Gehorsam die Nazifizierung des gesellschaftlichen und politischen Lebens.
Viele Tübingerinnen und Tübinger reihten sich bereitwillig in die deutsche ‚Volksgemeinschaft‘ ein, die durch Aufmärsche von Wehrmachtseinheiten und NSDAP-Parteiformationen und die Begehung nationaler Gedenk- und Feiertage inszeniert wurde.
Nur wenige wagten Protest oder gar Widerstand gegen das NS-Regime.

Verfolgung der politischen Gegner und der Juden

Das Gebäude Münzgasse 13 – im NS Sitz der Polizeidirektion und der Gestapo-Außenstelle (Foto: Walter Kleinfeldt/ Stadtarchiv Tübingen)

Direkt nach der ‚Machtübernahme‘ begannen die Nationalsozialisten mit der Verfolgung politischer Gegner. Die Polizei und die nationalsozialistischen Parteiverbände SA und SS verhafteten im Frühjahr 1933 in Tübingen 27 politische Gegner, insbesondere Kommunisten und Sozialdemokraten, und verschleppten sie in das Konzentrationslager Heuberg auf der Schwäbischen Alb. Diejenigen, die KZ-Haft durchgemacht hatten, waren eingeschüchtert und wagten keinen weiteren Widerstand. Bis 1937 ist jedoch die Tätigkeit von kleinen linken Widerstandsgruppen belegt. Eine davon kam in einem Keller in der Hohentwielgasse zusammen: Sie sammelte Geld für Verfolgte, verteilte illegale Schriften und besorgte falsche Pässe für NS-Gegner.

 

Die Ausgrenzung und Verfolgung von Jüdinnen und Juden wurde ab 1933 immer intensiver.
Am 1. April 1933 erzwang die SA den Boykott von Geschäften mit jüdischen Inhabern. Die Stadt löste ihre Verbindungen zu jüdischen Geschäftspartnern, ohne dass es dafür eine Anweisung aus Berlin gab. Im Mai 1933 beschloss der Gemeinderat, „Juden und Fremdrassigen“ den Zutritt zum Freibad zu verbieten. In der Nacht vom 9. November 1938 (Reichspogromnacht) brannten Nationalsozialisten die Synagoge in der Gartenstraße 33 nieder und verschleppten männliche Juden in Konzentrationslager. Zahlreiche jüdische Bürgerinnen und Bürger emigrierten ins Ausland. Ab 1941 wurden 22 Tübinger Jüdinnen und Juden in die Konzentrations- und Vernichtungslager in Osteuropa deportiert. Nur zwei von ihnen überlebten die Shoah.

Kriegsvorbereitungen

Auch in Tübingen begannen bereits kurz nach der ‚Machtübernahme‘ der Nationalsozialisten die Vorbereitungen auf einen Angriffskrieg. Die nach dem Ende des Ersten Weltkriegs zivil genutzte Infanterie-Kaserne (1938 in revanchistischer Absicht in Thiepval-Kaserne umbenannt) wurde ab 1934 wieder militärisch verwendet. In den folgenden Jahren baute die Wehrmacht die Hindenburg-Kaserne und das Standortlazarett (Auf dem Sand), um mehr Soldaten ausbilden bzw. versorgen zu können.

Vernichtungskrieg – Tübinger Akteure

Martin Sandberger (Foto: Wikipedia).

Im Zweiten Weltkrieg organisierten und leiteten mehrere frühere Tübinger in den Einsatzgruppen der Sicherheitspolizei (Gestapo und Kripo) und des SD (Sicherheitsdienst des Reichsführers SS) in der besetzten Sowjetunion Massenerschießungen von Juden, Roma, Kriegsgefangenen, Kommunisten und psychisch Kranken. Einer von ihnen war der Jurist und SS-Offizier Martin Sandberger (1911-2010). 1941 meldete er seinen Vorgesetzten, „sämtliche Voraussetzungen zu einem aktiven Einsatz an der endgültigen Lösung des Judenproblemes“ seien gegeben. 1942 berichtete er, dass seine Einheit im besetzten Estland 941 Juden getötet hatte. Ein Jahr später verkündete Sandberger, nun sei Schluss mit „Objektivitäts- und Humanitätsduselei“ gegenüber Kommunisten.
In den letzten Kriegsjahren wurde Tübingen zur Lazarettstadt. Die Versorgung verwundeter deutscher Soldaten erfolgte insbesondere in den Universitätskliniken, aber auch in zahlreichen militärischen und zivilen Gebäuden.

Entnazifizierung, aktives Verdrängen und Erinnerungskultur

Der Einmarsch der französischen Streitkräfte am 19. April 1945 beendete die Herrschaft der Nationalsozialisten in der Stadt. Auf eine kurze und nur wenig konsequent betriebene Phase der Entnazifizierung folgten mehrere Jahrzehnte des aktiven Verdrängens der Geschichte.
Erst ab den 1970er und 1980er Jahren kam es zu einem Wandel in der Gedenk- und Erinnerungskultur und damit auch zu einer Aufarbeitung der Lokalgeschichte des Nationalsozialismus. Zahlreiche Ausstellungen und Publikationen beschäftigen sich mit der Tübinger NS-Geschichte. Gedenkstätten und -tafeln (Holzmarkt 1983), Denkmäler (Synagogenplatz) und Stolpersteine erinnern an die ehemaligen jüdischen Bürger. Die Auseinandersetzung mit der Geschichte Tübingens im Nationalsozialismus ist im Laufe der vergangenen Jahrzehnte zu einem selbstverständlichen Teil der Erinnerung geworden.