Tübingen und der Nationalsozialismus

Walter Stahlecker, 1941 Leiter der SS-Einsatzgruppe A im Baltikum, hatte in Tübingen die Schule besucht und studiert. (Foto: Wikipedia).
– das ist ein Kapitel für sich. Ein Kapitel, das mehr Aufmerksamkeit verdient, als es lange Zeit bekommen hat. Schon in der Weimarer Republik hatte die NSDAP starken Rückhalt in der Bevölkerung und der Universität Tübingens. Aus beiden – Stadt und Universität – gingen überzeugte Nationalsozialisten hervor, die im Verfolgungsapparat wichtige Rollen spielten und an den Verbrechen des Holocaust direkt beteiligt waren. So etwa Theodor Dannecker, 1913 in Tübingen geboren, der als SS-Hauptsturmführer und „Judenreferent“ eng mit Adolf Eichmann zusammenarbeitete. Oder Martin Sandberger, ab 1932 Vorsitzender der Tübinger Studentenschaft, ab 1933 dann Hochschulgruppenführer des NS-Studentenbundes. Er war als Führer des Einsatzkommandos 1a für die Ermordung zehntausender Zivilisten verantwortlich. Oder Walter Stahlecker, auch er ein an der Uni Tübingen ausgebildeter Jurist. Als Kommandeur der Einsatzgruppe A war er maßgeblich für Massenmorde an Juden im deutsch besetzten Baltikum verantwortlich.
Die Universität war darüber hinaus an der nationalsozialistischen Ideologieproduktion beteiligt, und ihre Vertreter traten auch als Propagandisten in Erscheinung. Für beides stand Theodor Haering. Der Tübinger Professor wollte Philosophie als „geistige Rassenkunde“ neu ausrichten, in seiner „Rede auf Alt-Tübingen“ trat er für die „Volksgemeinschaft“ ein.
Nach 1945 wollte man in Tübingen von all dem erst einmal nichts wissen. Hans Gmelin, selbst durch seine Karriere im Nationalsozialismus einschlägig vorbelastet, wurde 1954 zum Oberbürgermeister Tübingens gewählt. Bis 1975 verblieb er in diesem Amt. Erst unter seinem Nachfolger Eugen Schmid wandte sich die Stadt der Aufarbeitung ihrer nationalsozialistischen Vergangenheit zu.
Seit den 1980er Jahren haben sich nun aber verschiedene Institutionen – von der Geschichtswerkstatt Tübingen e.V. über das städtische Kulturamt bis hin zum „Arbeitskreis Universität Tübingen im Nationalsozialismus“ – der Aufarbeitung dieses Teils der Tübinger Stadtgeschichte verschrieben. So verdienstvoll ihre Arbeit auch ist, mangelt es bislang doch an einer ständigen Präsentation des Themas an einer zentralen Stelle. Diese Lücke möchten wir schließen!
Unser Ziel – ein zentraler Lernort für demokratische Bildung
Unser Hauptanliegen war und ist, einen zentralen Lernort zu schaffen. Warum? Nur so ist eine dauerhafte kritische Auseinandersetzung mit der nationalsozialistischen Herrschaft vor Ort, mit ihrer Vorgeschichte und ihrem Nachwirken möglich. Immer geringer wird die Zahl derer, die die NS-Zeit selbst miterlebt haben und ihren Kindern, Enkeln und Freunden darüber Auskunft geben können. Daher ist eine institutionalisierte Vermittlung der Geschichte unumgänglich. Gerade in Zeiten, in denen rechtsextreme Gedanken wieder gesellschaftsfähig werden, kann eine derartige politische Bildung für die Akzeptanz demokratischer Werte werben.
Wir möchten Schülerinnen und Schüler ebenso wie alle anderen Interessierten anhand lokaler Beispiele zum Nachdenken darüber anregen, warum die Weimarer Demokratie von den Nationalsozialisten zerstört werden konnte. Wie wurde jeder und jede einzelne mit dem Herrschaftsanspruch und den Verbrechen des NS-Regimes konfrontiert? Auf welche Weise gefährdete nationalsozialistisches Gedankengut auch nach 1945 – und bis heute – unsere demokratische Gesellschaft? Warum erzeugt es noch immer politische Gewalt, die, wie im Falle des NSU, zur Ermordung missliebiger Menschen führt?
Die Suche nach dem richtigen Ort
Der Nationalsozialismus hat sich an vielen Stellen Tübingens eingeschrieben. Dies zeigt der 2016 eingeweihte Geschichtspfad zum Nationalsozialismus deutlich. Dennoch gestaltete sich die Suche nach einem passenden Ort für unser geplantes Lern- und Dokumentationszentrum als schwierig. Zunächst erschien uns das Haering-Haus in der Neckarhalde in besonderer Weise für unser Anliegen geeignet zu sein. Schließlich war der 1884 in Stuttgart geborene Philosophieprofessor Theodor Haering ein aktiver Propagandist der nationalsozialistischen Ideologie. Auch nach dem Krieg blieb er ein angesehenes Mitglied der Tübinger Gesellschaft. Ende 1953 wurde er in den Stadtrat gewählt, 1957 wurde er gar zum Ehrenbürger ernannt. Sein Haus hatte er der Stadt schon zuvor testamentarisch vermacht. 2013 entzog ihm der Tübinger Gemeinderat die Ehrenbürgerwürde postum. Anhand der Person Haerings hätte die Rolle der Universität im Nationalsozialismus veranschaulicht und die personellen Kontinuitäten zwischen Nationalsozialismus und früher Bundesrepublik problematisiert werden können. Leider war es der Stadt nicht möglich, uns Räumlichkeiten im Haering-Haus zur Verfügung zu stellen.
Eine neue Möglichkeit ergab sich für den Verein mit der geplanten Erschließung des Güterbahnhofareals. Durch diesen Ort wurde eine Erweiterung der Schwerpunktsetzung möglich. Der Güterbahnhof ist zunächst Zeugnis der Wirtschaftsgeschichte der Stadt. Doch auch hier hinterließen die Nationalsozialisten ihre Spuren. Zur Kriegsvorbereitung wurde eine Brandschutzmauer samt Beobachtungsstand eingezogen. Dieser konnte später auch potenziell zur Überwachung der dort zur Zwangsarbeit eingesetzten Kriegsgefangenen genutzt werden. Dieses bauliche Ensemble, das sich im Krieg in vielen Güterbahnhöfen fand, ist als eines von wenigen bis heute erhalten geblieben.
2015 beschloss der Gemeinderat, im ehemaligen Güterbahnhof das Stadtarchiv unterzubringen, und dem LDNS Räumlichkeiten für das geplante Lern- und Dokumentationszentrum zur Verfügung zu stellen. Aufgrund des Bezugs zu diesem historischen Ort sollen nun neben der Geschichte von Stadt und Universität im Nationalsozialismus auch das Thema Zwangsarbeit in Tübingen und in der Region Südwürttemberg gleichrangig behandelt werden.
Die Auseinandersetzung mit der
NS-Geschichte präsent halten – Arbeitsschwerpunkte und Veranstaltungsprogramm
Im geplanten Lern- und Dokumentationszentrum zum Nationalsozialismus sollen drei Schwerpunkte vertreten sein: Die Geschichte des Nationalsozialismus in Tübingen, die Rolle der Universität im Nationalsozialismus sowie die Geschichte der Zwangsarbeiter in Stadt und Region. Bis zur Eröffnung halten wir die Themen durch ein reges Programm, das jährlich etwa zehn Veranstaltungen umfasst, im öffentlichen Bewusstsein.
Den größten Block unter den Veranstaltungen stellen unsere Vorträge dar. Hier bieten zum einen unsere Mitglieder interessante Einblicke in die aktuelle Vereinsarbeit. Ebenso wichtig ist uns der Austausch mit auswärtigen Expertinnen und Experten, die wir sowohl zu Einzelvorträgen wie auch zu Podiumsdiskussionen einladen. 2014 widmete sich beispielsweise eine Vortragsreihe dem Themenkomplex Antisemitismus in Geschichte und Gegenwart, ein Jahr später folgten Vorträge zu Zwangsmigration und Zwangsarbeit im Nationalsozialismus. Die Vortragsreihe 2016 hatte wiederum Tübinger Akteure im Nationalsozialismus zum Gegenstand.

Historische Stadtführung zum Nationalsozialismus durch Dr. Martin Ulmer (Foto: Benedict von Bremen).
Sehr beliebt und gut besucht sind die von uns veranstalteten Stadtführungen, von denen wir 2015 gleich zwei anbieten konnten. Dr. Martin Ulmer informierte etwa anhand der ehemaligen Sitze von Gestapo und NSDAP in der Münzgasse bzw. Wilhelmstraße sowie des Wohnhauses von Theodor Dannecker in der Neckargasse über die Etablierung der NS-Herrschaft in Tübingen. Zudem zeigte er auf, dass die Umsetzung der propagierten „Volksgemeinschaft“ mit Ausgrenzung und Zwang einherging.
Exkursionen führen uns regelmäßig zu den Gedenkstätten in Südwürttemberg, 2016 ging die Reise sogar ins NS-Dokumentationszentrum nach München. Bei diesen öffentlichen Veranstaltungen geht es vor allem darum, sich über Ausstellungskonzepte und die damit gemachten Erfahrungen zu informieren. Zugleich bieten sie eine gute Möglichkeit, mit den Mitreisenden ins Gespräch zu kommen.
Ein besonderer Schatz – die „Sammlung Wedlich“

Zwei Jugendbücher aus der Sammlung Wedlich: Militaristische Heldenverehrung als ideologische Vorbereitung auf den Krieg.
2014 konnte der Verein von dem Tübinger Sammler Widolf Wedlich einen umfangreichen Bestand an Literatur aus und über die NS-Zeit erwerben. Die etwa 4700 Titel umfassen Zeitschriften, Monografien und Sammelbände aus vielen Bereichen des damaligen Lebens von Kinder- und Jugendbüchern über Propagandaschriften wie den „Völkischen Beobachter“ bis hin zu wissenschaftlichen Werken zu Pädagogik und Geographie. Diesen Bestand können wir nicht nur in zahlreichen Ausstellungen präsentieren, sondern er kann beispielsweise Schülerinnen und Schülern nach einer entsprechenden didaktischen Aufbereitung für Projektarbeiten zum Nationalsozialismus zugänglich gemacht werden.