
Postkarte mit Luftaufnahme von Tübingen von Südosten aus. Links unten der Güterbahnhof. (Foto: Stadtarchiv Tübingen)
Mit dem gestiegenen Frachtgutaufkommen wurde in Tübingen zu Beginn des 20. Jahrhunderts der Bau eines Güterbahnhofs notwendig. Auf dem Gelände des ehemaligen Exerzierplatzes wurde nach Plänen von Carl Bosch zwischen 1910 und 1913 der Güterbahnhof errichtet. Auch nach seiner Stilllegung 1990 blieb der Baukomplex jahrelang fast unverändert erhalten. Aufgrund „seines exemplarischen und dokumentarischen Wertes“ wurde das Gebäude 2010 unter Denkmalschutz gestellt.
An das im Westen liegende, knapp 20 Meter lange Verwaltungsgebäude schloss sich die über 80 Meter lange und 14 Meter breite Güterhalle an. Bei der Gestaltung des Verwaltungsgebäudes wurde auf die kleinstädtische Umgebung Bezug genommen, die Fassaden gestaltete man daher im zeittypischen Heimatstil. Im Innern fanden auch moderne Baustoffe und -techniken Anwendung. So ist etwa das Kellergeschoss unter der Güterhalle in Eisenbetonbauweise gefertigt, die Halle selbst dagegen in Holzfachwerkkonstruktion. Mit seinem nachts elektrisch beleuchteten großen Gleisvorfeld war der Tübinger Güterbahnhof bei seiner Einweihung im April 1913 Symbol für Fortschritt und Aufschwung.
Lazarettzüge, Militärtransporte, Zwangsarbeiter.
Der Güterbahnhof im Ersten und Zweiten Weltkrieg
Am 22. August 1914, anderthalb Jahre nach seiner Einweihung, diente der Güterbahnhof erstmals als Ankunftsbahnhof für einen Lazarettzug mit 600 verwundeten Soldaten, die in die Kliniken weitertransportiert wurden. Bis Ende des Ersten Weltkrieges 1918 sollten noch insgesamt 115 Transporte mit rund 11.600 Verwundeten folgen.

Der Güterbahnhof 1914. Im Vordergrund ein Transport verwundeter Soldaten. (Foto: Stadtarchiv Tübingen).
Da Tübingen mit zwei Kasernen (der Alten Kaserne südlich des Hauptbahnhofs und der 1914-1916 errichteten neuen Lorettokaserne) auch Garnisonsstadt war, fungierte der Güterbahnhof während des Ersten Weltkriegs außerdem als Umschlag- und Verladeort für Kriegsgerät und Truppen.
Auch im Zweiten Weltkrieg war der Güterbahnhof ein wichtiger Truppenumschlagplatz. Die Güterhalle wurde wohl gegen Ende der 1930er Jahre bzw. Anfang der 1940er Jahre durch mehrere massive Brandschutzwände in kleinere Abschnitte unterteilt. Diese Einbauten sollten im Brandfall eine Ausbreitung der Flammen auf den gesamten Komplex verhindern.

Güterhalle des ehemaligen Tübinger Güterbahnhof. Links der Beobachtungsstand (Foto: Hans-Peter Hellermann)
In eine dieser Brandschutzwände integrierte man einen massiv betonierten Beobachtungsstand. Leicht erhöht, bietet der Beobachtungsstand im Innern zwei Personen Platz. Schießschartenähnliche verschließbare Öffnungen geben nach beiden Seiten freie Sicht in zwei Abschnitte der Güterhalle. Die bis heute erhaltene Inschrift „Dieser Platz ist im Abstand von 1,2 m um den Beobachtungsstand freizuhalten“ deutet darauf hin, dass der Stand während des Zweiten Weltkriegs wohl auch dazu diente, die hier zum Be- und Entladen der Güterzüge eingesetzten sowjetischen Kriegsgefangenen zu bewachen.
Ein Jahr nach seiner Stilllegung wurde der Güterbahnhof erneut ein letztes Mal durch Militär genutzt. Im Zuge des Abzugs der französischen Garnison aus Tübingen erfolgte 1991 der Abtransport des Militärgeräts über den Güterbahnhof.
Seine vielfältige Nutzung macht den Tübinger Güterbahnhof zu einem Ort der Stadtgeschichte.
Zum Weiterlesen: Udo Rauch: Im Dornröschenschlaf – der Tübinger Güterbahnhof. In: Evamarie Blattner/Ulrich Hägele/Sarah Willner (Hg.): Schwelle zur Moderne. 150 Jahre Eisenbahn in Tübingen. Tübinger Kataloge; 91. Tübingen 2011, S. 88-101.